Man kann sein Leben beschreiben, wie es ist und wie man es sieht: beschissen und hoffnungslos und großartig und liebenswert
Im Internet geraten Krankheit und Tod wieder ins öffentliche Bewusstsein. Die Betroffenen finden dabei Trost, liefern sich aber auch aus
von matthias drobinski
Unmöglich, nicht berührt zu sein. Man möchte mitheulen, den Kerl in den Arm nehmen, der da in seinem Van sitzt und dem die Tränen aufs Lenkrad tropfen. Vor 20 Minuten hat man Joe Daley sehen können, wie er ins Pflegeheim fuhr, die Seele war noch im Gleichgewicht. Seine Mutter wohnt dort, seit sie sich selber nicht mehr versorgen kann. 66 Jahre ist sie gerade mal alt, sie hat diese Form von Demenz, die so furchtbar früh einsetzt und so furchtbar schnell voranschreitet. Joe Daley besucht seine Mutter regelmäßig, und jedes Mal ist ein bisschen verloren von ihrem Geist und Verstand. Der Sohn bewahrt tapfer den Optimismus und das breite Grinsen unter der Baseball-Kappe.
Doch diesmal bricht er zusammen. Er hat Molly, seine Mutter, ins Café ausgeführt, und wie sie sich da gegenübersitzen, weiß Molly nicht mehr, dass der Mann, der sie da ausführt, ihr Sohn ist. Joe bedrängt sie mit Fragen. Molly gibt sich alle Mühe, vergebens. Joe schafft es noch, sich mit einem Lächeln von seiner Mutter zu verabschieden. Dann geht nichts mehr.
Unmöglich, teilnahmslos zu bleiben. Da ist eine Frau, Mutter von vier Kindern, mit 46 Jahren mitten im Leben, schön, sportlich. Gemeinsam mit ihrem Mann führt sie ein bekanntes Restaurant in München. Und eines Tages weiß sie: Ihre Muskeln werden immer schwächer, sie wird sterben, an ALS, an Amyotropher Lateralsklerose. Doch Nina Zacher lebt ihr Leben bis zuletzt. Sie lässt Filme drehen über sich, sie zeigt sich gefasst und klar in den verschiedenen Stadien der Krankheit. Auf Facebook postet sie Witze übers Sterben. Im April 2016 ringt sie sich Buchstabe für Buchstabe auf dem Sprachcomputer einen Abschiedsbrief ab: „Ich bin täglich auf ein Neues überrascht, wie es möglich ist, immer noch am Leben zu sein. Ich bin mit nur noch 35 Kilo auf 1,78 mehr tot als lebendig.“ Sie schreibt, wie sich die Knochen durch die Haut bohren und über ihre unerträgliche Atemnot. Und über die Gleichgültigkeit vieler Menschen in ihrer Umgebung. „Ich lasse mir jetzt Flügel wachsen und werde ein Engel“, lautet ihr letzter Facebook-Eintrag.
Man kann mit Joe Daley weinen, weil er die Besuche bei seiner dementen Mutter mit dem Smartphone aufnimmt und auf Youtube zeigt. Man kann den Weg der tapferen und klugen Nina Zacher verfolgen, weil sie ihre Krankheit publik gemacht hat, auf Facebook und über die Reporter verschiedener Medien.
Immer schon gab es Menschen, die ihr Leiden und ihr Sterben öffentlich machten, manchmal gar zelebrierten. Der Dichter Heinrich Heine, der sich in seiner Pariser „Matratzengruft“ über seine tödliche Krankheit lustig machte, Marcel Proust, der in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ seiner Gebrechlichkeit nachspürte. Oder Papst Johannes Paul II., der in seinen letzten Lebensjahren eine eigene Leidensmystik lebte. Im Netzzeitalter aber wird aus den Einzelnen ein Phänomen.
Julia Müller, 24, bloggt, seit sie vor drei Jahren die Diagnose bekam: Morbus Hodgkin, Lymphdrüsenkrebs. Sie hat den Krebs überwunden, will aber Mutmacherin sein für andere, ihre Seite ist eine Austauschplattform für Betroffene geworden. Benni Wollmershäuser schreibt in seinem Blog „Cancelling Cancer“ über seinen künstlichen Darmausgang: „Es bedeutet, dass der Darm im Zuge einer Operation durch die Bauchdecke nach außen geführt wird. Dort wird er wie ein Schlauch umgestülpt und vernäht. Hört sich komisch an, ist aber so.“ Wer ein bisschen sucht, der findet in den Weiten des Netzes ziemlich viele Menschen, die ziemlich viel und ziemlich offen über ihre Krankheiten schreiben, Bilder posten, sich mit Gleichgesinnten austauschen.
Es ändert sich gerade etwas ganz Wesentliches: unser Blick auf das Unvermeidbare, auf Krankheit und Tod. Sie rücken ins öffentliche Bewusstsein. Lange schienen sie an den Rand gedrängt zu sein, in Krankenhäuser, Intensiv- und Palliativstationen, den Blicken der Gesunden verborgen. Krankheit und Tod waren dem Alltag fern, sie waren fremd, monströs, übermächtig, der Krebs war den Boulevardzeitungen der große Angstmacher – als abstrakte Bedrohung. Doch das Tabu ist seit einiger Zeit gebrochen.
Es gibt die Debatte über das gute oder unerträgliche Lebensende und die Frage, ob und wann assistierter Suizid erlaubt sein sollte. Es gibt Filme über das Kranksein und Sterben wie Andreas Dresens „Halt auf freier Strecke“ über einen Mann, der erfährt, dass er einen Hirntumor hat, Michael Hanekes „Liebe“ über einen Mann, der seine todkranke Frau erstickt. 2015 erhielt die Schauspielerin Julianne Moore einen Oscar für ihre Rolle als demenzkranke Alice. Die Zahl der Bücher über das eigene Sterben oder das Sterben von Angehörigen wird unüberschaubar.
Nirgendwo aber ist der Umgang mit dem Thema radikaler, unmittelbarer als im Netz. Es gibt dort ja die bekannten Echoräume des Gewalttätigen und Aggressiven, des Verschwörungstheoretischen und der Fremdenfeindschaft, die verschiedenen Kammern des Schreckens. Es gibt im Netz aber auch die Echoräume des Mitleids, der Anteilnahme und der Solidarität; Orte des Austauschs und des trotzigen Selbstbewusstseins im Angesicht der Grenzen des Lebens, der leisen Trauer und des gerechten Zorns. Man muss hier nicht berühmt oder besonders sein, um seine Geschichte öffentlich machen zu können. Man braucht keinen Verleger, der lustvoll grinsend sagt: Das werden uns die Leute vom Büchertisch reißen. Man kann sein Leben beschreiben, wie es ist und wie man es sieht: beschissen und hoffnungslos und großartig und liebenswert.
Und die Leute interessiert das, sie bekommen nicht genug davon. Joe Daleys Geschichten über den langsamen Abschied von der Mutter haben mehr als 31000 Abonnenten; mehr als 3300 haben die Episode kommentiert, in der Molly ihren Sohn nicht mehr erkennt. Mitleid und Ermunterung kommen sogar aus Saudi-Arabien, viele schrieben ein kurzes „God bless you“ oder „Strong man!“, schicken Herzen und hochgereckte Daumen: nicht unterkriegen lassen, Junge. Einer rät dem Sohn, die Mutter nicht so sehr unter Druck zu setzen. Einer sagt: Natürlich erkennt sie dich, sieh doch nur, wie vertraut sie mit dir ist. Sie weiß halt deinen Namen nicht mehr.
Nina Zacher hatte mehr als 44000 Facebook-Freunde. Allein die Nachricht von ihrem Tod wurde mehr als 12000 Mal geteilt, ein Strom von Herzen, Trauerbekundungen und guten Wünschen ergoss sich über die Hinterbliebenen. Kommt es den Kranken, Sterbenden und Trauernden darauf an: möglichst viel Anteilnahme zu erhalten? Die Münchner Wirtin und Joe Daley, der Mann aus Amerika – sie beide legen Wert darauf, dass es nicht nur darum geht. Ja, Anteilnahme und Aufmerksamkeit tun gut, und natürlich sind die Blogs auch Formen des therapeutischen Schreibens; für Opfer sexueller Gewalt zum Beispiel kann es sehr wichtig sein, gegen ein verschweigendes und verdrängendes Umfeld öffentlich bestätigt zu werden: Du hast recht.
Nina Zacher, Joe Daley und viele andere wollen aber mehr. Sie wollen aufklären, Vorurteile überwinden, die Mauern niederreißen, die Krankheit und Sterben umgeben. Nina Zacher kämpfte um Aufmerksamkeit für die immer noch wenig erforschte Erkrankung ALS, Joe Daleys Videos haben eine tröstliche Botschaft: Man kann mit demenzkranken Angehörigen Spaß, Freude, Glück erleben. Der Sohn findet sich damit ab, dass die Mutter seinen Namen nicht mehr weiß. Und man sieht eine Frau, die in unschuldiger Freude Geschenke entgegennimmt, auch wenn sie nicht weiß, dass an diesem Tag ihr Geburtstag ist; man sieht ihren Sohn, der sich über dieses ahnungslose Glück freuen kann.
Nein, da ist nichts Verlogenes, nichts, worüber man sich erheben sollte, was der Enttarnung bedürfte. Ja, das ist eine gute Seite des Netzes. Und doch passiert etwas Eigenartiges. Es taucht ein Unbehagen auf, leise erst, dann wächst es, je mehr man sieht und liest. Man hat das Gefühl, Voyeur zu sein, unerlaubter Teilnehmer fremden Leids, Unglücks und Kampfes. Es sind ja keine Kunstfiguren, deren Leben und Sterben man da verfolgt, wie im Film oder Roman. Es ist nicht die Inszenierung wie beim Schriftsteller Wolfgang Herrndorf, der sein Leben mit der Krankheit bis zu seinem dramatischen Ende per Pistolenschuss dokumentierte. Es sind echte Menschen in Echtzeit, die da die Gardinen an den Fenstern des Privaten zurückziehen und allen zurufen: Bitte hineinsehen!
Und soll man das dann? Hineinschauen, sich an den Rand der Tränen bringen lassen, vielleicht selber ein paar Herzen und Daumen und Wünsche schicken, danach aber wieder umschalten? Ist das nicht merkwürdig selbstbezogen: Man nutzt das Leid der Anderen, um sich, in einer Art Katharsis, besser zu fühlen, durch eine Aktion, die einen in Wahrheit fast nichts kostet, die keine echte Nähe herstellt, sondern nur eine virtuelle? Und dann poppt auf dem Bildschirm, mitten in diesen Gedanken, ein Fenster auf: Umfrage. Spielen Sie gerne Computerspiele? Wenn ja, lieber Quizduelle, Strategiespiele oder Egoshooter? Bitte antworten. Attraktive Preise winken!
Das ist sicher empfindlich, vielleicht überempfindlich. Es haben doch die Menschen selber die Gardine weggezogen, das Fenster geöffnet: Sieh hin, nimm uns wahr, überprüfe deine Vorurteile, stelle dich deinen Ängsten vor Krankheit und Tod! Ja, das soll man, dringend.
Das Unbehagen kommt auch weniger von den Menschen her, anders als bei jenen, die der Welt ihre politischen Ansichten, bevorzugten Haustiere, hochbegabten Kinder oder sexuelle Vorlieben präsentieren und sich dann über den Voyeurismus und die Häme der Welt wundern. Das Unbehagen kommt daher, dass hier der Raum zwischen Öffentlichem und Privatem so unbestimmt ist: Was so privat und intim aussieht, ist weltweit einsehbar, benutzbar, missbräuchlich, selbst über den eigenen Tod hinaus. Es beginnt ein Eigenleben. In dem Moment, da es veröffentlicht ist, kann es Munition werden für Sadisten, Zyniker und Euthanasiefantasten. Und es kann, noch schlimmer, im Extremfall zur Entscheidungshilfe werden für Krankenversicherungen und Arbeitgeber: Aha, die hat gerade den Krebs überwunden – die nehmen wir nicht. Und einer mit Depression – wer weiß, ob das nicht wiederkommt!
Das alles gibt man ab ins Unbekannte, ausgeliefert der Hierarche des Mitleids: Burn-out klingt gut, der Arme war halt überarbeitet. Eine Krankheit, gekommen wie ein böser Gast aus heiterem Himmel, verdient größte Anteilnahme. Womit aber können jene rechnen, die zu dick sind, die durch ihre Krankheit zunehmend aggressiv werden, deren Leberschaden durch den Suff kommt? Eigentlich müsste man ihnen raten: Bleibt auf jeden Fall stumm inmitten des allgemeinen Redens.
Und letztlich ersetzt die virtuelle doch nicht die reale Zuneigung. Kurz vor ihrem Tod schrieb Nina Zacher: „Mein Geburtstag vor zwei Wochen war eine extrem bittere Enttäuschung. Im Smartphone-Zeitalter ist scheinbar alles, was persönlicher ist als eine elektronische Nachricht, auch wenn es mein letzter Geburtstag war, noch zu viel erwartet. Wahrscheinlich erwartet man zu viel. Dennoch hätte ich mich so sehr über ein, zwei kleine bunt verpackte Sinnlosigkeiten gefreut.“
Die Zeichen der Rührung, die Sympathiebekundungen im Netz ersetzen am Ende keine Umarmung und keine echten Tränen, die der andere auch spüren kann.
Quelle
Verlag Süddeutsche Zeitung
Datum Samstag, den 18. März 2017
Seite 45
Drei Jahre etwa schreibe ich nun schon, so wie etwa Benni Wollmershäuser, den ich kennen lernen durfte, in meinem Blog. Der Blog hat mir geholfen, mit der Krankheit fertig zu werten und ich habe bisher nur gute Erfahrungen damit gemacht. Heute im März 2017 "tritt mein Krebs eher auf der Stelle" und über Leben, Krankheit, Sterben und Tod ist eigentlich alles geschrieben. Trotzdem habe ich noch treue Leser und die Zugriffszahl liegt in der Gegend von 90.000. Aber irgendwann wird er siegen - mein Krebs!
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