Montag, 20. Februar 2017

Die Türe vor 29 Jahren

Meine Frau schrieb lange Zeit regelmäßig für unsere Zeitung und sie liebte damals schon allgemeine Themen, die heute wieder eine ganz andere, neue Bedeutung bekommen haben:
Eine Tür öffnet sich und viele Wege tun sich auf
Manchmal gibt es Situationen im Leben, da steht man wie vor einer Tür, weiß oder glaubt zu wissen, was sich dahinter verbirgt, und hat trotzdem ein wenig Angst, sie zu öffnen. Denn irgendwie spürt man, dass es, auch wenn man es zu kennen glaubt, doch anders sein wird, als in der Vorstellung. Die Dinge haben oft ein Eigenleben, eine Weiterentwicklung, die wir nicht immer steuern können...
Eine solche war für mich zum Beispiel die Zeit, in der ich wusste, dass ich in ein Internat kommen sollte, weit weg von zu Hause. Ich war elf Jahre damals, kann mich aber an meine Empfindungen und Gefühle noch genau erinnern. Ich war schon angemeldet, und meine Mutter nähte wochenlang Namensschildchen in Kleidungs- und Wäschestücke. Je höher der Stapel wurde, der "fertig" war, desto mehr wuchsen Angst und Beklommenheit in mir. Wie war das Leben in einem Internat? Wie würde es mir gehen allein und fremd im fernen Rheinland? Sicher, ich hatte die üblichen Jungmädchenbücher übers Internatsleben gelesen (die auch heute noch "in" sind, wie ich bei Sabine feststelle) - doch war ich skeptisch. Mir war da alles zu rosig dargestellt. Auch die Beschreibungen meiner Eltern, die ich zunehmend mehr bedrängte, mir Einzelheiten von diesem Internat zu erzählen - nahm ich eher mit Skepsis zur Kenntnis. Wie ein schmaler, langer Gang führte alles auf diese Tür "Internat" zu. Fluchtmöglichkeiten gab es nicht. Und als ich dann davor stand, blieb mir gar nichts anderes übrig, als sie aufzumachen.
Bei der nächsten Tür, von der ich erzählen will, war es ganz anders. In dem Moment, als sie aufging, empfand ich ein Glücksgefühl wie niemals vorher. Es war auf einem Waldweg, an einem Spätsommertag mit strahlend blauem Himmel und zwitschernden Vögeln. Eine Situation, die jedem Kitsch- und Liebesroman alle Ehre gemacht hätte. Und ich spürte das auch so intensiv, dass ich die ganze Szene noch heute, über zwanzig Jahre später, genau vor mir sehe. Da nahm mich mein Mann in die Arme und fragte, ob ich für immer bei ihm bleiben wolle. Und die Tür, die sich durch die Antwort auf seine Frage öffnete, führte dann auf einen Weg, der mein ganzes weiteres Leben bestimmen sollte.
Und noch ein letztes Türerlebnis - ein für mich recht schwieriges und schmerzhaftes, wobei das mit der Tür ganz wörtlich genommen werden kann. Ich musste sie öffnen, immer wieder neu, damals, als Florian geboren war. Ich musste durch diese Tür, über eine steile Treppe, einen langen Flur entlang, bis ich endlich bei ihm war, in der Frühgeborenenstation eines Münchner Krankenhauses. Doch ich durfte ihn immer nur sehen, war durch eine dicke Glasscheibe von ihm getrennt. Konnte ihn anschauen, wie er da lag in seinem Inkubator (wenn man selbst mal ein Kind drin liegen gehabt hat, sieht man diese Geräte mit ganz anderen Augen!), zart und zerbrechlich, keine vier Pfund schwer, Schläuche in Kopf und Nase, die kleinen, zittrigen Ärmchen festgebunden, damit er sie nicht herausziehen konnte . . .
Immer wieder stand ich da, und während ich ihn betrachtete, mich über jeden noch so winzigen Fortschritt freute, gingen mir viele Gedanken durch den Kopf. Ich hatte mir mein Mutter-sein, meine ersten Schritte auf diesem Weg ganz anders vorgestellt. Sie waren schwierig und ich brauchte eine Weile, bis ich mich zurechtfand, denn alles sah so ganz anders aus, als ich es mir vorgestellt hatte.
Das ist eben die Sache mit der Tür. Sie verbirgt das, was hinter ihr liegt, man muss mit Überraschungen und auch Enttäuschungen rechnen, man muss auf Vielerlei gefasst sein, muss das, was kommt, erfassen, muss sich damit befassen. Der Weg, der hinter der Tür liegt, kann angenehm sein, gradlinig - oder auch steinig, wirr, ungeordnet, kurvig und steil, kaum erkennbar. Vielleicht ist es auch ein Weg, den man erst suchen muss, bevor man auf ihm gehen kann.
(Artikel gekürzt, erschien am 9. Januar 1988)
Welche Bedeutung der Begriff Türe für uns noch bekommen würde, war der Autorin vor fast 30 Jahren nicht bewusst. Aber in unserem Keller erinnert heute ein Messgerät an einer Türe daran, dass es Türen gibt, die uns bei Bedarf in eine ganz andere Welt führen, wenn wir glauben, es ist genug ...



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